Standpunkt und Perspektive
1. These: Die Perspektive ist das Ergebnis einer Konstruktion. Es handelt sich seit der Renaissance um eine technische Errungenschaft der Vorspiegelung: die zweidimensionale Projektion eines dreidimensionalen Gegenstandes im Raum.
Standpunkt und Perspektive (inhaltlich und technisch) bestimmen in allen Epochen die Arbeit des Künstlers. Wie man aber Ort und Zeit erfährt, ist von den Bedingungen der Zeit selber abhängig. Absichten, Ziele und Möglichkeiten sind also historisch fixiert.
Zur Verdeutlichung: Die religiöse Jenseitsorientierung wird in der Zeit der Renaissance und der Reformation gewandelt. In der „neuen Zeit“ geht der Blick vom Hier und Jetzt auf das Irdische, es ist der Blick auf die Welt von einem subjektiven Punkt in der Welt.
2. These: Bei der inhaltlichen Dimension von Standpunkt und Perspektive geht es um die Suche nach dem Wesentlichen. Entsprechend befreiten sich Moderne Künstler wieder von dem technischen Korsett der Perspektive und experimentierten frei mit den künstlerischen Mitteln.
Den Sinnen sind nur die Erscheinungsqualitäten des Wirklichen zugänglich. Radikal wird das gesamte verfügbare bildnerische Stilisationsrepertoire eingesetzt, um damit die derzeitige Scheinwirklichkeit aufzubrechen und „Wirkliches“ durch „Kunstwirkliches“ wieder wahrnehmbar zu machen.
3. These: Die Künstler wurden nun ausgehend von einem „fremd-fernen“ und „archaisch-distanzierten“ Standpunkt zu Entdeckern des Unentdeckten.
Entscheidend in der „Moderne“ ist die Definition des Standpunktes. Um die Wirklichkeit zu entdecken, muss man möglichst unbeeinflusst auf die Erscheinungen der Welt blicken können. Das geht nur aus der Distanz, die einem Fremden, einem Kind oder einem „Urmenschen“ eigentümlich ist.
4. These: Ästhetische Tätigkeit verweigert sich gegen die Versöhnung mit dem schlecht Gegebenen. Kunst entzieht sich der bürgerlichen Erwartung des Kunstgenusses. Gegenwärtige Kunst fordert ihre Erfahrung heraus.
Dem Standpunkt kommt für die Ästhetische Tätigkeit gleiche Bedeutung zu wie der perspektivischen Ausrichtung. Mit der Festlegung dessen, was nicht mehr sein darf, sein soll, entwickelt sich ein Ausgangspunkt an der Grenze des Geläufigen.
Kommentar zu den Bildbeispielen:
4a. Da ist ein Fleck Erde, der tatsächlich niemandem gehört. Das widerspricht dem Standpunkt bürgerlichen Denkens. Und der Aphorismus von Novalis wird durch die Realität illustriert: „Die Natur ist Feindin ewiger Besitzungen. Sie zerstört nach festen Gesetzen alle Zeichen des Eigentums, vertilgt alle Merkmale der Formation. Allen Geschlechtern gehört die Erde; jeder hat Anspruch auf alles.“ Dem Nachdenklichen bleibt nur der Ausdruck seines Befremdens gegenüber dem Selbstlauf der Dinge, in dem Profit und Besitz über Natur und Mensch gestellt wird.
4b. Knaupps Zeichnung ”Sahara” besteht nur aus auf- und abschwellenden, die Fläche modulierenden feinen Strichelungen, die sich zu rationalen Formgruppen vereinen bzw. auflösen. Das Blatt selber wurde zur gegliederten Ödnis einer Bildlandschaft geformt. Die geographische Wirklichkeit gilt bezogen auf das ”Kunststück” nur analog, nicht sie ist widergespiegelt, sondern eine Bildwüste hervorgebracht, in der das Wesen der Verwüstung als Verfahren die Spuren hinterließ.