Evidenz der Malerei
1. These: Alle glaubwürdige bildnerische Kunst ist evident (klar bzw. luzide/einleuchtend). Daraus leitet sich in der Folge der Anspruch auf einen Erkenntniswillen in der Rezeption ab.
Kein Bildwerk sagt etwas, sondern macht etwas sichtbar: Auf Evidenz konzentriert sich folglich die Arbeit des Künstlers.
Das Wort Evidenz bedeutet (lt. Wahrigs Deutsches Wörterbuch) Augenschein, Offenkundigkeit, völlige Klarheit. Erkenntniswille ist das Gegenüber dazu. Auch wenn Erkennen oberflächlich mit rationaler Aktivität verbunden wird, ist das passende Element die sinnliche Erkenntnis. Als analogon rationis (A.G. Baumgarten) überbietet sie die rationale Erkenntnis in Prägnanz und Tempo.
2. These: Evidenz bezieht sich auf die dialektische Einheit von Form und Inhalt. Falsches wird als Unstimmiges offensichtlich. Wenn aber Unstimmiges in der Wirklichkeit zum Thema des Bildwerkes gewählt ist, gilt dennoch der Evidenzanspruch an die Darstellung des Unstimmigen.
Unstimmigkeiten im Werk degradieren es. Sein Inhalt wird zur Vorspiegelung falscher Tatsachen. Selbst handwerkliche Akkuratesse übertüncht nicht das Unwahre in der Aussage. Kulturindustrielle Produkt, wenn man sie kritisch betrachtet, sind die deutlichsten Belege dafür. In der Theorie wird das "Falsche" als das "Hässliche" bezeichnet. Soll also das "Hässliche" zur kritischen Betrachtung dargestellt werden, so gilt auch hier, dass das "Falsche" unmissverständlich als Bildgegenstand erscheint. Nicht das Bild ist falsch, hässlich bzw. unstimmig, sondern sein Gegenstand. Der soll zur Anschauung gebracht werden.
3. These: Basis der Evidenz der Bildwerke ist die Klarheit der inhaltlichen Elemente, die Eindeutigkeit der eingesetzten Bildmittel und die Logik der Formierung. Das gilt über den gesamten kunstgeschichtlichen Zeitraum hinweg bis in die neueste Moderne.
Kannte die vormoderne Malerei weitgehend literarische Inhalte (religiöse, ideologische oder poetische) so erweitert sich das in der Moderne. Das Sujet ist die Transformation des Faktischen in die Bildform, die Interpretation und die Stellungnahme zur Wirklichkeit. Das steigert sich schließlich bis zur Erfindung einer ausschließlichen Bildwirklichkeit. Entsprechend wandeln sich die Bildmittel vom „trompe loeille“ zum radikalen Einsatz von Farbe und Form. Zwar gibt es weiterhin narrative Bildgestaltung. Dominant ist in der Moderne jedoch die Ordnung und das Arrangement der Farb- und Formelemente.
4. These: Wenn die Kunst jeweils die Stilisation ihrer Zeit ist, lässt sich das Prinzip der Evidenz auch in den Bildwerken aller Epochen und Kulturkreise nachweisen. In allen Werken der Vergangenheit und der Gegenwart kommt das jeweils historisch Wesentliche zur Anschauung.
Sind zum genauen Erkennen der Merkmale zwar kulturgeschichtliche Kenntnisse notwendig, so ist dennoch auch ohne genaues Wissen in den Bildern die Eigenart der Zeit im Bild evident. Damit ist zum Beispiel nicht gemeint, dass ein religiöser Inhalt als Bild eindeutig sichtbar gemacht wurde, sondern dass die Bedeutung aufscheint, die den Glaubensinhalten zu ihrer Zeit beigemessen wurde.