Reduktionslogik
1. These: Beispielhaft für den Beweis des Prinzips der Evidenz sind die grafischen Arbeiten der Künstler. Noch die kleinste Zeichnung oder Skizze betrachtet man zuerst als eigenständiges Phänomen.
Die Grafik der Moderne wird also als autonomes Moment der Wirklichkeit aufgefasst und erst nach der ersten Wahrnehmung als besondere Form der Interpretation des Empirischen angesehen. Es mag dies Phänomen der Autonomie sein, das der geometrischen und der bewegten, der rationalen und sensuellen Abstraktion spontan Wirkung und Anerkennung sichert. Darum konnte auch in der Grafik bis zu höchster Vollendung experimentiert werden.
2. These: Die spontane Wahrnehmung basiert auf dem optischen Reiz, der von der Komposition der grafischen Elemente ausgeht. Grafik ist faszinierende Reduktion, Abstraktion und Konkretion zugleich.
Sinnliche Erkenntnis (als analogon rationis) überbietet die rationale Erkenntnis in Prägnanz und Tempo, wenn die Inhalte in grafischer Form vermittelt werden. Das bleibt aber nicht bei der Zeichenhaftigkeit der Grafik stehen. In der grafischen Arbeit des Künstlers ist die Durchdringung der rationalen und sensuellen Elemente der Anlass zu ihrer schnellen Erfassung.
3. These: Jede Grafik ist zwar zuerst ein "Kunststück". In einer zweiten Dimension wird sie jedoch zur Mitteilung.
Es ist eines gesonderten Gedankenganges würdig, die grafische Arbeit als Abstraktionsvorgang analog zur begrifflichen Abstraktion zu betrachten. Beides entfernt sich vom Empirischen. Auch die Grafik setzt dem “Wirklichen“ das in die spezifischen Ausdruckselemente und Zeichensysteme Umgewandelte entgegen. Beide Verfahren sind a priori rational und zugleich auch sinnlich, im je umgekehrten Wirkungsvorgang. Sprachliche Darstellung ist zuerst deutlich logisch. An das Sinnliche vermittelt sie nur das Schriftbild und der tönende Vortrag. Erst indirekt erfolgt die Übersetzung der erfahrenen Inhalte in Gefühlswerte. Grafische Artikulation verfährt dagegen auf besondere Art reduktionslogisch mit Formelementen und -systemen in die das Substanzielle der Wirklichkeit übersetzt wird. Dabei wird alle Herkunft aus der Wahrnehmung des Realen zur Abstraktionsrealität überwunden. Unmittelbar wandelt der „Grafiker“ die Sinneseindrücke zum bildnerischen Vokabular um. So gewinnt er aus den Wesensmerkmalen frei verfügbare Mittel der Gestaltung, dem Sprachkünstler, der mit Schriftzeichen arbeitet, ähnlich. Der Rezipient kehrt, dem grafischen Gebilde folgend zum substanziellen, inhaltlichen Ausgangspunkt zurück.
4. These: Grafische Artikulation wirkt auf den Rezipienten wie eine sprachliche Formulierung. Sie löst durch die Eigenart der grafischen Formen einen rationalen Erkenntnisvorgang aus.
Besonders die Schwarz-Weiß-Artikulation nähert sich durch die technisch streng geklärten Mittel und Fügungen der begrifflichen Abstraktion. Vokabular und „Grammatik“ (d.h. Fügung der Zeichen) ähneln in der Struktur zwar den sprachlichen Grundsystemen. Nur ist die Grafik wegen ihres Materials sogar noch klarer. Das scheint mit Punkt, Linie, Fläche karg bemessen zu sein, ist aber durch Duktus, Dichte, Ausrichtung, Beugung, Bewegung usw. schier grenzenlos zu modulieren. Das grafische Repertoire lässt sich so zum Träger sensueller Ausdruckswerte und zur Transformation rationaler Inhalte in anschauliche Formen steigern.